Auf die Plätze, mutig, los

Die wertvollsten Erinnerungen fangen mit Mut an. Kaum zu glauben, aber ich war früher tatsächlich kein mutiges, sondern eher ein sehr scheues, angepasstes, ruhiges, und extrem schüchternes Mädchen. Bloß nicht auffallen, war meine Devise. In der Schule war ich eine wahnsinnig ehrgeizige, introvertierte und fleißige Schülerin. Von meinen Mitschülern wurde ich kaum und wenn, dann allenfalls als stille Streberin, wahrgenommen. Ich war für die meisten nur eine unscheinbare, zierliche Einser Schülerin. Zu Hause war ich die brave Tochter, die stets alle Regeln befolgte und kaum ein Wort sprach, vor allem nicht widersprach. Und dann kam die Pubertät sowie ein enormer Wachstumsschub, der mich gefühlt auf einen Schlag in die Höhe schießen ließ. Im Spätsommer Ende der Achtziger Jahre mussten meine KlassenkameradInnen zu Beginn des achten Schuljahrs zweimal hin schauen, als sie mich nach sechs wöchiger Pause wieder sahen. Aus dem zarten Teenager war eine junge heranwachsende Frau geworden. Jahre später erzählten meine Schulfreunde mir bei einem unserer Klassentreffen, wie extrem diese Verwandlung damals auf sie gewirkt hatte. Denn ich hatte nicht nur eine optische Metamorphose durchlebt, ich war auf einen Schlag viel selbstbewusster, ja regelrecht mutig. Plötzlich hatte ich eine Stimme. Ich scheute mich nicht mehr davor, vor anderen Menschen zu sprechen. Ich meldete mich sogar freiwillig als Klassensprecherin und wurde bis zu unserem Schulabschluss mit einem unglaublich herzlichen Vertrauensvorschuss wiedergewählt. Ich gehörte jedoch keiner dieser gängigen Cliquen im Klassenverband an, ich war sozusagen die Schweiz. Ich habe mich mit Schülerinnen und Schülern aller Gruppierungen gut verstanden. Mit den ruhigen Strebern, den Nerds, den Reichen und Schönen, den armen Kids, den hyperaktiven Rowdies, den Punks und Gothic-Anhängern und Rockabillys. Es interessierte mich nicht im geringsten, was jemand besaß oder woher jemand kam. Es war mir egal, wie jemand aussah oder welche Mode sie oder er trug. Bereits in sehr jungen Jahren, daran hat sich auch bis heute nichts geändert, überzeugten und überzeugen mich vor allem positive Einstellungen und innere Werte, eine tolle Persönlichkeit sowie gute Charaktereigenschaften meiner Mitmenschen. Aber wann und wie gelang es mir, quasi über Nacht so mutig zu werden? Ich habe damals nicht verstanden, warum es mir praktisch von heute auf morgen gelang, mutig meinen ganz eigenen Weg zu gehen. Drei erfahrene Jahrzehnte später verstehe ich allerdings sehr gut die kausalen Zusammenhänge und erkenne, wie positiv sich dabei insbesondere Ermutigungen ausgewirkt haben. Ein entscheidender Moment, der maßgeblich dazu beigetragen hat, endlich aus meinem Schneckenhaus hervor zu kriechen, erlebte ich nämlich in den großen Sommerferien 1989. Davor muss ich allerdings noch ein klein wenig weiter ausholen. Ich war zu diesem Zeitpunkt seit Jahren Mitglied eines Turnvereins und übte mich unter anderem regelmäßig im Boden- und Geräteturnen. Meine große Leidenschaft galt allerdings dem großen Trampolin. Ich liebte es, hoch in die Luft abzuheben. Das springen gab mir ein unvergleichliches Freiheitsgefühl. Die Glücksgefühle, die mich mit jedem Sprung Richtung Hallendecke durchströmten waren unbeschreiblich belebend. Ich war ein echter Jumping Junkie. Ich empfand außerdem überhaupt keine Angst dabei, immer neue waghalsigere Sprünge und Salti auszuprobieren. Ich trainierte wirklich sehr eisern mindestens zwei bis drei Mal pro Woche. Durch den sagenhaften Zusammenhalt unserer tollen Vereinsmitglieder fühlte ich mich zudem sehr wohl in unserer Sporthalle, sie war wie ein zweites, viel glücklicheres zu Hause für mich geworden. Ohne Sport, Turnerfreunde und Trainer fühlte ich mich einfach nicht vollständig. In den Sommerferien wurde jedoch meist viel weniger trainiert, denn viele Sportler und Übungsleiter verreisten in dieser Zeit und so fiel so manches Training dann zu meinem großen Bedauern aus. In besagtem Sommer war dem auch so, also verbrachte ich meine Ferienfreizeit bei bestem Wetter im Freibad. Fasziniert von zwei erfahrenen Kunstspringern am Ein- und Dreimeterturm, packte mich der Ehrgeiz, diese coolen Sprünge ins Wasser unbedingt auch ausprobieren zu wollen. Ich beobachtete die beiden älteren Jungs eine Zeit lang vom Beckenrand und schaute mir dabei ganz genau ihre Sprungtechniken an und ab. Es dauerte nicht lange und ich hatte den Dreh raus. Ich hatte tatsächlich eine weitere Sprungleidenschaft für mich gefunden. Ich übte wie besessen, verbesserte die Figuren und Überschläge von Sprung zu Sprung und nach kurzer Zeit nahmen mich die beiden Profis unter ihre Fittiche und coachten mich von da an täglich am Sprungbecken des kleinen Freibads. Bereits ab der zweiten Woche hatte sich dann eine kleine Fangemeinde um die Sprungtürme versammelt. Allen voran ein paar pubertäre, völlig verknallte Jungs, die es nicht glauben wollten, dass ein so zierliches Mädchen mit einem perfekten Auerbach- oder Doppelsalto ins kühle Nass springen konnte. In diesen Sommerferien konnte ich mich kaum noch vor Bewunderern und Verehrern retten. Die unscheinbare und schüchterne Jugendliche wurde in kürzester Zeit zur umschwärmten Teenagerin, die mit so viel Mut Neues ausprobierte und sich in einer sonst überwiegend von Jungs dominierten Ecke des Freibads gekonnt behauptete. Diese Erfahrung war für mich so ungewohnt, so neu, dass ich das Interesse an meiner Person zunächst gar nicht fassen konnte. Ich wollte nicht begreifen, dass mich Gleichaltrige überschwänglich für meine sportliche Leistung lobten. Im Turnverein war es nichts besonderes, da wurden gelungene Sprünge für gut befunden aber es machte eben keiner einen Tanz darum. Die Ermutigung und Bestätigung, die ich dann aber im Schwimmbad erstmalig in einem so großen Ausmaß erleben durfte, veränderte mein Selbstbewusstsein offensichtlich für immer. Ab diesem Zeitpunkt existierten zwei Parallelwelten in meinem Leben. Es gab zum einen die alte Welt zu Hause, in der ich noch sehr lange meinen neu entdeckten Mut vor der Tür stehen ließ und noch eine ganze Weile die stille aber wachsame Beobachterin blieb. Und dann gab es da den Rest der Welt, der mir augenblicklich so viel größer erschien, der mir so viele Möglichkeiten, wenig Begrenzungen und phantastische Chancen bot. Ich musste nur den Mut haben, die dafür erforderlichen Schritte selbst zu gehen und in neue Abenteuer zu springen. Und das gelang mir ab da erstaunlicherweise richtig gut. Das Springen begleitete mich dabei immer wieder auf meinem Lebensweg. Ich probierte mich unter anderem auch im Bungee Jumping, Fallschirmspringen und Jumping Fitness. Ich bin wirklich erstaunt, wie wenig es damals offensichtlich brauchte, um so viele ungewohnte Fähigkeiten in mir zu wecken. Das bisschen Anerkennung für ein paar Luftsprünge reichte scheinbar aus, um mir fortan bei jedem noch so kleinen Vorhaben einfach viel mehr zuzutrauen. Nie hätte ich mir als Kind ein derart selbstbewusstes und selbstbestimmtes Leben erträumt. Es zeigt auch, wie wichtig Ermutigung für Kinder ist. Lobt eure Kids, schenkt ihnen Beachtung und fördert ihre Talente, ohne sie dabei zu überfordern. Und egal, woran du persönlich Freude hast, probier es aus, sei mutig und finde deine eigenen Leidenschaften. Trau dich was. Wir sollten alle viel öfter einen Mutausbruch haben. Auf die Plätze, mutig, los!