Harte Lektionen

Hattest du eine glückliche Kindheit? Das Umfeld, in dem Kinder aufwachsen, prägt das spätere Leben maßgeblich. Welchen Stellenwert du allerdings den Erfahrungen aus Kindheitstagen gibst und welchen Einfluss die Dramen und Traumen der Vergangenheit auf deine Gegenwart und Zukunft haben, entscheidest zu einem Großteil du selbst. Meine Kindheit war offen gesagt leider alles andere als schön und dennoch würde ich rückblickend nicht behaupten, dass ich ein durch und durch unglückliches Kind war. Es gab auch schöne Augenblicke, fröhliche Momente, kostbare Erinnerungen und ganz besondere, herzliche Menschen, die mir sehr wohlgesonnen waren, mich ermutigt haben und mir ein gutes Vorbild waren. Mein Vater hatte einen sehr großen Einfluss auf mein Leben.  Nach der Trennung meiner sehr jungen Eltern bin ich bei ihm aufgewachsen und habe die meiste Zeit alleine mit ihm in einer kleinen, ungemütlichen Sozialwohnung gelebt. Diesen zwei Zimmern konnte man beim besten Willen nichts positives abgewinnen. Ich habe mich wahnsinnig geschämt für unsere erbärmliche und lieblose Behausung und hatte große Hemmungen, Freunde zu mir einzuladen. Ich bin heute überzeugt, dass selbst die negativen Erinnerungen an diese schreckliche Bruchbude einen beachtenswerten Einfluss auf mich hatten. Mein regelrechter Zwang nach Perfektion in den eigenen vier Wänden schreit ja förmlich danach. Mein Daddy war ein Mann mit zwei Gesichtern. Er war sehr intelligent und doch wahnsinnig dumm. Er war ein total lockerer Typ und gleichzeitig ein sehr strenger Vater. Er war lustig, hatte Charme und Witz und plötzlich, im Bruchteil einer Sekunde konnte er schrecklich aufbrausend und furchteinflößend sein. Auch er war vom Leben geprägt und sowohl der Einfluss seiner Eltern, als auch viele schlechte Entscheidungen, die er als junger Mensch selbst getroffen hatte, hatten Auswirkungen auf seinen späteren, leider sehr unglücklichen Lebensweg. Aus seinen Fehlern wollte und sollte ich lernen, sie waren eine wichtige Lektion für mein eigenes Leben. Obwohl mein Vater ein jähzorniger Choleriker war, dem schnell die Hand ausrutschte, kann ich an zwei Händen abzählen, wie oft ich in seine Schusslinie geraten bin. Glück? Wohl eher nicht, denn im Grunde war ich nur ein sehr angepasstes Kind. Ich war klug genug, unterhalb des Radars zu fliegen. Ich wollte unter keinen Umständen auffallen und hielt mich akribisch an seine Regeln. Wenn er betrunken oder wütend war, ging ich ihm aus dem Weg. Ich provozierte ihn nach Möglichkeit nicht, kümmerte mich brav um den Abwasch und meine Hausaufgaben. Auf meine schulische Ausbildung legte mein Vater nämlich größten Wert. Es war ihm wichtig, dass ich gute Noten schreibe und die Schule mit einem angemessenen Abschluss beende, worüber er zum gegebenen Zeitpunkt wahnsinnig stolz war. Er selbst hatte das Gymnasium seinerzeit ohne Abitur verlassen, um für seine junge Familie Geld zu verdienen. Eine Entscheidung, die rückblickend vermutlich sein ganzes weiteres Leben in eine falsche Bahn lenkte. Er absolvierte eine Ausbildung zum Maurer und war mit Anfang zwanzig, wie viele anderer seiner Kollegen am Bau, dem Alkohol verfallen. Er war außerdem ein starker Raucher und war auch anderen berauschenden Suchtmitteln gegenüber nicht abgeneigt. Ich habe schon als junges Mädchen Drogen vehement abgelehnt und wollte unbedingt einen anderen Weg einschlagen. Ich selbst habe noch nie geraucht und erst sehr spät begonnen, in Maßen und sehr kontrolliert, Alkohol zu genießen. Dabei befolge ich bis heute meine drei eisernen Regeln: Trinke nie, wenn du traurig oder verzweifelt bist, trinke nie so viel, dass du die Kontrolle verlierst und trinke nie, niemals, wenn du Auto oder Motorrad fährst. Die Alkoholsucht meines Vaters hat das Leben seiner Familie sehr stark beeinflusst und sein eigenes Leben leider viel zu früh beendet. Mit Anfang vierzig ist er durch den Einfluss seiner schlechten Lebensweise an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt und wenig später verstorben. Wenige Monate, bevor seine Erkrankung diagnostiziert wurde, hatte er auf mein Drängen hin erfolgreich einen Alkoholentzug durchgestanden und bis zu seinem Tod nie wieder einen Tropfen angerührt. Leider eine sehr späte Einsicht. In nüchternem Zustand war mein Vater nämlich ein ganz besonderer Mensch, ich habe ihn wirklich sehr geliebt. Er war ein humorvoller Hippie, mit dem man viel Spaß haben konnte. Er hatte einen hervorragenden Musikgeschmack, der bis heute tief in meiner Seele verwurzelt ist. Er hat mich schon in jungen Jahren das Schach- und Skatspielen gelehrt. Seine Koch- und Backkünste waren außerdem legendär. Beruflich hatte er sich nach seiner kurzen Handwerkerkarriere gleich zweimal neu erfunden. Nach seiner Scheidung machte er zunächst eine Umschulung zum Bürokaufmann. Fasziniert von den neuesten technologischen Möglichkeiten und seiner großen Freude am Programmieren, hatte er wenig später den Ehrgeiz, noch einen Schritt weiter zu gehen. Er besuchte die Abendschule, wurde Informatiker und arbeitete letztlich als Softwareentwickler in einem kleinen IT-Unternehmen. Vermutlich haben auch diese Lektionen meine Einstellung maßgeblich geprägt, nicht auf der Stelle zu treten und sich stets weiter zu entwickeln. Auch wenn ich eine sehr loyale und treue Mitarbeiterin bin, die seit über zwanzig Jahren im gleichen Unternehmen tätig ist, verweile ich nie lange an einer Stelle. Ich bin eine sehr ehrgeizige Frau, die jede Veränderung als Chance sieht. Dabei lag mein Fokus selten darauf, Karriere zu machen. Mir geht es in den meisten Fällen um die persönliche Herausforderung, etwas Neues zu lernen und andere Optionen auszuprobieren. Daddys Lektionen waren hart aber hilfreich. Ich wäre heute sicher nicht der Mensch, der ich geworden bin, wäre er nicht gewesen. Hätte ich mir eine glücklichere Kindheit gewünscht? Definitiv ja. Hätte ich mir gewünscht, mein Vater hätte einen anderen Lebensweg eingeschlagen? Auch das möchte ich nicht verneinen, denn unter anderen Umständen würde er heute sicher noch leben. Könnte man die Zeit zurückdrehen und alles ändern, wer weiß, was dann aus mir geworden wäre und welchen Einfluss das wiederum auf mein heutiges Umfeld gehabt hätte. Wäre ich heute dort, wo ich bin? Mit den Menschen, die ich liebe? Das ist eine schwierige Frage, die mir sicher niemand beantworten kann. Deshalb nehme ich all die Erfahrungen, die ich gemacht habe, gute wie schlechte, dankbar an und schaue nach vorne und nicht mehr zurück. Willst du glücklich sein? Dann sei es, egal wie glücklich oder unglücklich deine Kindheit war. Lebe im hier und jetzt und erschaffe dir deine eigenen positiven Erinnerungen und sei eine Inspiration und ein gutes Vorbild für jedes, hoffentlich glückliche Kind in deinem Umfeld.