Wie funktioniert das mit dem „in Liebe loslassen“ ? In den letzten Monaten haben etliche volljährige „Kinder“ von Freunden, Kollegen und Bekannten das
elterliche „Nest“ verlassen. Sie sind flügge geworden und wollen auf eigenen Beinen stehen. Ein ganz natürlicher Lebensabschnitt, der aber seine Spuren bei den Eltern hinterlässt. Den Müttern
fällt der Abschied meist besonders schwer, kein Wunder, haben sie sich Jahre lang fürsorglich um ihr geliebtes „Baby“ gekümmert. Was, wenn es ein Einzelkind ist, das nach zwei Jahrzehnten aus dem
Mittelpunkt des Alltags verschwindet ? Dann stehen die Eltern plötzlich wieder ganz „alleine“ da und die oft herbeigesehnte Zweisamkeit muss erst einmal neu gelernt werden. Unser Sohn wird
in wenigen Monaten sechzehn. Noch mache ich mir keine Gedanken über seinen Auszug, dennoch kann es schneller gehen, als man für möglich hält. Mein Patenkind wird im Juli volljährig und hat vor
wenigen Wochen entschieden, unmittelbar nach ihrem achtzehnten Geburtstag auszuziehen. Schule und Uni liegen vom Elternhaus auch nur wenige Kilometer weiter weg, als die zukünftige Stadtwohnung.
Die junge Frau könnte also ganz problemlos und sorgenfrei bis zum Ende ihres Studiums zu Hause wohnen bleiben. Ein wunderschönes Zuhause mit allem nur erdenklichen Luxus. Mit ihren Eltern gab es
auch keinen nennenswerten großen Streit. Nur die üblichen Reibereien, die man als heranwachsender Teenager mit den immer anstrengender werdenden Eltern eben so hat. Mit ihrer jüngeren Schwester gab es dagegen öfter mal Zank, aber auch das
ist völlig normal. Meine Patentochter möchte aber nun mit ihrem Freund in ein hippes Szene Viertel in der Innenstadt ziehen, um dort auf eigenen Beinen zu stehen. Ganz schön mutig und ich wünsche
ihr dafür alles erdenklich Gute. Ich bin mir nur noch nicht so ganz sicher, ob ihr die Tragweite ihrer Entscheidung wirklich bewusst ist. Was es heißt, sich ständig selbst um das eigene Leben zu
kümmern. Ich bin bereits als Siebzehnjährige zu Hause ausgezogen, hatte allerdings keine andere Wahl. Obwohl ich mich viele Jahre selbst und ständig um den Zweipersonenhaushalt, in dem ich mit
meinem Vater alleine lebte, gekümmert habe, war es noch einmal eine ganz andere Hausnummer, plötzlich wirklich alles und damit meine ich tatsächlich ALLES alleine zu verantworten. Die eigenen
vier Wände müssen ja auch erst einmal komplett eingerichtet werden. Es braucht neben den wichtigsten Möbeln (Bett, Tisch, Stühle, Sofa) eine Küche mit Geschirr, Besteck, Gläsern, Töpfen, Pfannen.
Man benötigt Handtücher und Bettzeug sowie eine Menge anderer Kram, den man als junger Mensch zu Beginn so gar nicht richtig auf dem Schirm hat. Wie Putzutensilien, Waschmaschine, Wäscheständer,
Staubsauger und oder Besen und Handfeger, Geschirrtücher, Mülleimer, WC Bürste und und und. Dann hast du noch keinen Luxus, wie zum Beispiel eine Kaffeemaschine, einen Toaster oder eine
Küchenmaschine. Und dann wären da die immer wiederkehrende Kosten für Miete und Nebenkosten, für Versicherungen, für Telefon und Internet sowie für Lebensmittel und Drogerieartikel. Hin und
wieder möchte man dann vielleicht auch mal wieder ein paar neue Klamotten. Ach ja und der Führerschein soll ja auch noch gemacht werden. Als junger Mensch möchte man dann auch noch ausgehen und
Freunde in coolen Lokalen treffen oder Kino und Konzerte besuchen, Geburtstagsgeschenke machen oder selbst eine kleine Feier ausrichten und liebe Menschen in der ersten eigenen Wohnung
nett bekochen. Ganz zu schweigen von dem Wunsch, vielleicht auch mal
wieder zu verreisen, einen Vergnügungspark zu besuchen oder das erste Auto anzuschaffen. Hätte ich die Möglichkeit gehabt, bis zum Ende meiner Ausbildung in einem guten zu Hause zu bleiben, wäre
ich geblieben. Ich hätte mir viel Anstrengung, Geld und viele Sorgen erspart. Ich hätte vielleicht einen anderen Weg eingeschlagen, hätte mich dann letztlich vermutlich doch eher für ein Studium
und gegen eine Ausbildung entschieden. Ich hätte aber auch nicht all die Erfahrungen gemacht, die mich haben wachsen lassen, die mich gestärkt haben, die meinen Kampfgeist und Ehrgeiz geweckt
haben und mein Selbstbewusstsein geformt haben. Ich bin stolz auf mein Leben und blicke nicht mit Wehmut zurück. Ich habe viel erreicht, ich weiß, wie es ist, sich alles hart zu erarbeiten. Es
ist ein gutes Gefühl, zu wissen, was man alleine alles auf die Beine stellen kann. Ich bin ein großer Freund davon, Kinder selbständig zu erziehen und sie ab einem bestimmten Zeitpunkt ihre
eigenen Erfahrungen machen zu lassen. Dennoch kann ich mich gerade so gut in die Situation meiner Freundin versetzen. Wie schwer es ihr ums Herz ist, in Liebe loszulassen und ihre Tochter ziehen
zu lassen, um ihre eigenen Erfahrungen zu machen. Das Zimmer meines Patenkindes bleibt erst einmal unverändert. Ihre Eltern haben sie wissen lassen, dass sie jederzeit wieder willkommen ist, wenn
sie zurück kommen möchte. Mit diesem Wissen wird es vielleicht leichter, diese Möglichkeit hatte ich seinerzeit nicht, es gab damals keinen Plan B. Nun wünsche ich meiner Patentochter einen guten
Start in ihr neues Leben und in ihre Selbständigkeit. Ich wünsche ihr viel Kraft und Energie, um Schule und danach ihr Studium, Job, Haushalt, und Fahrstunden unter einen Hut zu kriegen, um auch
ihre Jugend und Freizeit noch in vollen Zügen genießen zu können. Und meinen lieben Freunden wünsche ich, dass sie gut loslassen können, dass sie sich mit der Situation arrangieren und sich nicht
allzu große Sorgen um ihr erstes Küken machen, das dem elterlichen Nest entflogen ist. Wer in Liebe loslässt, hat aber auch die Hände frei, um Neues zu empfangen. In diesem Sinne, Euch allen
einen schönen Vatertag. Eure Nicole